Glosse 113: Die Notgans

Autor: Rot. Alexander Hoffmann

Pünktlich zu St. Martin lud der RC Redliwil zum traditionellen Gänseessen, das gehörte zu den Genen des Clubs. Doch in diesem Jahr herrschte im Vorfeld plötzlich Unruhe. «Die wollen sie uns wegnehmen!», warnte Clubsekretär Tgetgel Präsident Bräker.

«Wer will wem was wegnehmen?»

«Die Vegetarier und Veganer rütteln an unserer Gans. Denken Sie nur an den Vortrag von Rotarier Schneebeli vor einer Woche», knurrte Tgetgel.

Schneebeli, seines Zeichens Internist, hatte kenntnisreich über die Mortalitätsrate infolge Herzkranzverfettung gesprochen und in seiner Powerpoint-Präsentation eine Gans in Form eines dickbäuchigen Todesengels präsentiert.

Rotarier Schmidhauser holte für die Gansfraktion zum Gegenschlag aus. Er würdigte im Folgevortrag die Gans als Lieferant des höchst wichtigen Mineralstoffs Magnesium, dazu den Gehalt an Eisen, Vitamin A und einigen Vitaminen der B-Gruppe. In einem Video zeigte er zudem glückliche Gänse auf dem Musterhof eines freilaufenden Biobauern, die freudig St. Martin entgegenfieberten.

Bald drohte das Gansthema den Club zu entzweien. Präsident Bräker fragte den Küchenchef der Heidistube, ob er auch eine fettfreie Gans im Angebot habe. «Wir hatten mal eine Tofu-Gans», erwiderte der Koch, «die lief aber nicht so gut.»

Die Diskussion im Club eskalierte, doch Bräker zeigte sich diplomatisch: «Wir setzen auf Vielfalt, auf Toleranz und eine lebendige Diskussionskultur.»

Ein Gansausschuss wurde installiert, der nach langen Beratungen den Koch um eine Zubereitung in vier Varianten bat:

Gans klassisch

Gans aus Magerhaltung

Gans vegan

Gans digital, optisch geniessbar auf dem Smartphone.

Der Küchenchef schlug die Hände über dem Kopf zusammen und kündigte einen Tag vor dem Gans-Event fristlos, unter Mitnahme der bereits bestellten Gänse. Der Wirt der Heidistube wühlte verzweifelt in seinen Vorräten und servierte den Freundinnen und Freunden eine Notgans. Sie bestand aus einem Süppchen mit dem übriggebliebenen Sossenfond der Vorjahresgänse, dazu ein paar versteinerte Maronis. Frisch war immerhin das Rotkraut. Dazu sang der eilends engagierte Tenor der Redliwiler Oper das Volkslied «Fuchs, du hast die Gans gestohlen.»

Der Präsident rühmte die Notgans als «kreativ-kulinarische Überraschung nebst Kulturkomponente», doch Tgetgel widersprach: «ich will keine lebendige Diskussionskultur und auch keinen Tenor, im nächsten Jahr will ich wieder eine Gans, dick, fett und knusprig.»