94. Der Fremde im Zug

Verfasser: Alexander Hoffmann / Erich Gerber

Als Präsident Georges Bräker ein Erstklassabteil im Intercity 8 betrat, der ihn von Redliwil nach Bern bringen sollte, hatte es aus Coronagründen nur wenig Passagiere. Leicht fand er einen freien Fensterplatz. Seine Lust wurde noch grösser, als er ihm gegenüber einen Passagier erblickte, der ebenfalls die Rotary-Nadel trug. Ergänzt wurde diese Gruppe durch einen Reisenden ohne Abzeichen, der auf einem Platz etwas weiter hinten fast durch seine Neue Zürcher Zeitung verdeckt war. Vielleicht las er gerade einen Artikel über die hohen Coranakosten der Schweizerischen Bundesbahnen…

Bräkers Interesse und Freude wurde noch grösser, als sich sein Gegenüber als Rotarier Kübeli, Präsident des RC Neuheidiland, entpuppte. Und schon kamen sie darüber ins Gespräch, was es bedeutete, Präsident eines Rotary-Clubs zu sein.

Hans Kübeli seufzte: „Ich habe lange ein Werk mit fünftausend Leuten problemlos gemanagt, aber meine 70 Schäfchen im Club, die schaffen mich.“
„Wem sagst Du das, lieber Freund? Als ob man einen Sack Flöhe hüten muss“, meinte Bräker.
„Es ist eine Rasselbande“, stöhnte Kübeli.
„Keiner liest meine Mails“, knurrte Bräker.
„Und sie hören kaum zu“, klagte Kübeli.
„Alles muss man ihnen dreimal sagen“, meinte Bräker.
„Und dann tun sie es immer noch nicht“, erwiderte Kübeli.
„Die Schäfchen sind halt träge, manche wollen immer am gleichen Ort sitzen!“ stieß Bräker hervor.
„Und sind wenig dankbar“, bemerkte Kübeli bekümmert.
„Außerdem hantieren sie während der Vorträge ständig an ihren Smartphones“, brummte Bräker.
„Ach, die Vorträge! Da hatte ich mal einen Nobelpreisträger der ETH Zürich eingeladen. Und wie viele kamen zum Vortrag? Acht Mitglieder“, klagte Kübeli.
„Lass mich raten: spielte an jenem Abend die Champions League?“, fragte Bräker.
Kübeli nickte: „Ja, aber es ist schon ein Problem mit unseren Leuten…“

Beide redeten en detail weiter, dann verfielen sie ins Schweigen und jeder dachte über seine Situation nach, als der Zug in Olten hielt und der Fremde sich vom Gangplatz erhob und hinaus ging.
Zuhause begrüßte ihn die Gattin: „Wie war das Geschäftsmeeting in Zürich?“
Er winkte ab: „Wie immer – viele gingen hinein und nichts kam heraus.“
Sie wollte ihn trösten, doch er meinte: “Im Zug habe ich zwei getroffen, bei denen auch nicht alles funktioniert.“
„Von welcher Firma?“
„Na ja, so genau konnte ich nicht verstehen, wer sie sind und was sie eigentlich tun. Sind wohl in irgendeiner Vereinigung zur Betreuung einer ganz speziellen Kundschaft. Aber es muss dort ziemlich schlimm sein…

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