Glosse 102: Die Rotierenden

Autor: Rot. Alexander Hoffmann

«Wir müssen mit der Zeit gehen», befand Präsident Georges Bräker und schlug vor, auch beim RC Redliwil zu gendern. «Sonst heisst es, wir seien alte, böse weisse Männer.» Beim nächsten Meeting begrüsste er alle mit «Liebe Rotierende», womit sämtliche denkbaren Geschlechter berücksichtigt waren.

Clubsekretär Hans Tgetgel knurrte: «Wir sind weltoffen und tolerant, für Gleichberechtigung und für Minderheiten. Aber mir ist unklar, inwieweit Gendern das irgendwie fördern soll.»

«Das werden wir Dir schon noch beibringen», entgegnete Jungrotarier Zysset. Er hatte einen Abschluss in Gender Studies und war die treibende Kraft der Genderfraktion im Club. In seinem Klassifikationsvortrag hatte er seine Mutter genderkorrekt als das «austragende Elternteil» erwähnt.

Als Zysset von den «Studierenden» sprach, erinnerte der Clubintellektuelle Professor Dr. Johann Immergrün an Goethe. «Der hat fein unterschieden zwischen dem Studierenden, der über seinem Lehrbuch hockt, und dem Studenten, der in Auerbachs Keller Wein trinkt. Es ist grammatikalischer Nonsens, das Partizip Präsens zu verwenden, um die beiden Geschlechter zu vereinen.»

Zysset focht das nicht an: «Auch Goethe, wer immer das sein mag, wird sich noch ans Gendern gewöhnen müssen.»

Rotarier Immergrün zitierte einen renommierten Linguisten: «Der Mond ist nicht männlich, die Erde nicht weiblich, das Weltall nicht sächlich. Es gibt ein biologisches und ein grammatisches Geschlecht.»

Nils Zysset blieb unbeirrt. Die Rotierenden mussten sich in der Volkshochschule Redliwil einfinden, um den Gebrauch des Gendersterns zu lernen, das Herzstück der neuen Hochsprache. Sie übten, das «Liebe Rotarier*innen» mit dem sogenannten Glottisschlag zu sprechen, einer Minipause zwischen dem männlichen Wortstamm und der weiblichen Nachsilbe. So wie beim «Spiegelei», das mit einer Unterbrechung als «Spiegel-Päuschen-Ei» gesprochen wird.

Eines Abends trotteten Immergrün und Tgetgel auf dem Bürger*innensteig nach Hause, leise «Spiegel-Päuschen-Ei» übend. Da fragte Tgetgel: «Wo sind eigentlich unsere Damen im Club? Von denen kommt nie eine zur Schulung.»

In der Tat. Die Frauen, Redliwils Gemeindepräsidentin und Bürgermeisterin Margrit Lüthi vorneweg, rollten nur die Augen, als man sie zum Glottisschlagen einlud.

Lüthi plante gerade ihren kommenden Wahlkampf. Als Zysset ihr Referat dazu unter «Bürger*innen*meister*inwahl» ankündigte, platzte ihr der Kragen. «Männer kann man wirklich nicht unbeaufsichtigt lassen, da kommt einfach nur Unfug heraus.»

Lüthi mobilisierte die gesamte Frauenriege im Club, die Präsident Bräker in Kur schickte und Zysset eine Gesamtausgabe von Goethes Werken schenkte. Beim folgenden Meeting präsidierte Lüthi als Notvorstand und verkündete: «Das Spiegel-Päuschen-Ei hat ausgedient. Basta.»

«Bürger*innen*meister*inwahl»

7 Gedanken zu „Glosse 102: Die Rotierenden

  1. Es ist einfach, sich über die Genderdiskussion lustig zu machen.
    Es ist schwieriger, das zugrunde liegende Faktum der Übervertretung von Männern in Machtpositionen in Wirtschaft und Politik als gesellschaftliches Problem anzuerkennen.
    Es wäre eine rotarische Chance, im eigenen Club damit anzufangen.

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