41. Geschichte 5 aus dem Leben: Warum fällt uns das Zuhören so schwer?

Verfasser: Heinz Anderegg

Meine Schwiegereltern waren gerade aus den Ferien aus Wien zurückgekehrt. „Die Heimreise war der reinste Horrortrip“, hatte mir meine Schwiegermutter am Telefon ihr Leid geklagt. „Die erste Panne hatten wir irgendwo bei Linz. Wir liessen den Wagen in einer Autowerkstatt reparieren und fuhren dann weiter. In Salzburg streikte er erneut, aber die schlimmste Panne war die bei München, mitten im Stossverkehr. Ich glaubte schon, wir würden überhaupt nicht heimkommen.“
„Das ist furchtbar“, warf ich ein und wollte ihr gerade die Schreckensgeschichte erzählen, wie mein Wagen mitten auf dem Parkplatz im Einkaufszentrum „Grüze“ gestreikt hatte. Doch jemand läutete an ihrer Tür, und so musste sie sich verabschieden.

„Danke, dass Du zugehört hast und „besonders“, fügte sie hinzu, „dass Du mir keine Horrorgeschichten über Deinen Wagen erzählt hast.“ Beschämt legte ich auf.

In den folgenden Tagen musste ich viel über ihre Worte nachdenken. Wie oft war es schon vorgekommen, wenn ich mich über einen Streit mit meinem Sohn bei einem Kollegen beklagte oder über Ärger im Beruf oder auch nur über Probleme mit meinem Wagen, dass er mich, noch ehe ich damit zu Ende kam, mit den Worten unterbrochen hat: „Das ist mir auch schon passiert.“
Und plötzlich sprechen wir über seinen undankbaren Sohn, seinen ungerechten Chef und eine undichte Benzinleitung. Und mir bleibt nicht viel mehr übrig, als zu nicken und mich zu fragen, ob wir nicht alle unter chronischer Unaufmerksamkeit leiden, wenn jemand uns sein Leid klagt.

Wie leicht verwechseln viele Menschen die Floskel „Das kenne ich aus eigener Erfahrung“ mit echtem Mitgefühl. Nichts scheint auf den ersten Blick hilfreicher zu sein, als einem völlig entnervten Freund zu versichern, dass er nicht der Einzige ist, dem so etwas zugestossen ist. Doch Probleme ähneln einander nur aus der Ferne.

Wenn man genauer hinsieht, sind sie so einmalig wie Fingerabdrücke. Nehmen wir einmal an, die Frau Deines Freundes hat ihren Arbeitsplatz verloren. Auch die Firma Deiner Frau hat Stellen abgebaut, und Deine Frau ist ebenfalls arbeitslos. Doch keine der beiden Familien hat gleich viel Geld zur Verfügung, die gleiche Art von Nebeneinkünften oder sonstige finanzielle und andere Unterstützung. Oft sagen wir: „Ich weiss genau, wie Du Dich fühlst“, und geben dann gutgemeinte Ratschläge die unseren eigenen Erfahrungen entsprechen.

Doch gesetzt den Fall, man hat gerade eine strapaziöse Autoreise hinter sich oder das eigene Kind bekommt mitten in der Nacht Fieber – möchtest Du dann wirklich hören, was der Freund oder die Freundin in einer ähnlichen Situation erlebt oder getan hat?
Manchmal stecken wir in einem seelischen Tief, sind schrecklich aufgeregt oder unbeschreiblich glücklich. Dann erhoffen wir uns, dass die Person, der wir uns mitteilen, uns das Gefühl gibt: Ich habe alle Zeit der Welt, dir zuzuhören. Diese Fähigkeit, jemandem in tiefem Schmerz oder himmelhoch jauchzendem Glück selbstlos zuhören zu können, ist der Eckpfeiler wahren Mitgefühls.

Doch echtes Mitgefühl kann man erlernen. Seit dem Telefongespräch mit meiner Schwiegermutter habe ich beispielsweise mein impulsives Bedürfnis unterdrückt, einen Freund zu unterbrechen, wenn er sich mir anvertraut. Ich versuche seither zu lernen, auf die Körpersprache, den Gesichtsausdruck, den Ton der Stimme zu achten und darauf, was ungesagt bleibt.

Ich erkenne wirkliches Mitgefühl jetzt auch besser, wenn es mir entgegengebracht wird, und ich weiss es mehr zu schätzen. Vor einiger Zeit rief ich einen Freund an und klagte, dass ich mich aus lauter Nervosität nicht konzentrieren könne. „Möchtest Du mir Dein Herz ausschütten?“, bot er mir an. Ich tat es ausführlich. Schliesslich bedankte ich mich, dass er mir so mitfühlend zugehört hatte, und erkundigte mich jetzt erst, wie es ihm denn ginge. „Darüber können wir uns morgen unterhalten“, antwortete er. Das empfand ich als echtes Mitgefühl.
Wir wollen nicht immer Antworten oder einen Rat. Hin und wieder möchten wir nur ein offenes Ohr.

Und noch so nebenbei:
Als Doris, die Frau eines Freundes, den Bestseller “Männer sind anders, Frauen auch” von John Gray gelesen hatte, sagte sie mit einem Seufzer zu ihrem Max: „Manchmal mögen es Frauen nicht, wenn die Männer ihnen bei der Lösung ihrer Probleme helfen wollen. Manchmal ist es „ihr“ aber auch lieber, wenn „er“ sie in den Arm nimmt und ihr versichert, dass alles wieder gut wird.“
Am andern Morgen hatte Doris einen Platten an ihrem Auto. Max sah sich die Sache an, versicherte Doris, dass das leicht wieder in Ordnung zu bringen sei, schloss sie in die Arme – und fuhr zur Arbeit.

 

 

 

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