38. Geschichte 2 aus dem Leben: Harry, der Bettler auf der Themsebrücke

Verfasser: Heinz Anderegg

Ein junger, arbeitsloser Mann – nennen wir ihn Harry – stand auf einer Themsebrücke in London. Es war während der Krisenjahre. Harry hatte alles versucht, alles vergeblich. Für ihn hatte niemand Arbeit, und um nicht verhungern zu müssen, sah er sich gezwungen, den letzten Ausweg zu wählen: Er stellte sich auf die Themsebrücke und bettelte.

Eines Tages tippt jemand Harry auf die Schulter. Es ist ein junger, elegant gekleideter Geschäftsmann. Er spricht Harry an und sagt zu ihm: „Junger Mann, ich gebe Ihnen keinen Penny. Aber ich gebe Ihnen einen guten Rat, der mehr wert ist als alles Geld, das ich Ihnen geben könnte: Machen Sie sich nützlich!“ Und ohne Gruss setzt der junge, elegant gekleidete Geschäftsmann seinen Weg fort.

Wir können dem Bettler leicht nachfühlen, was er gedacht haben mag. „Nützlich machen? Habe ich denn nicht alles versucht, bevor ich mich auf diese Stufe habe herabsetzen lassen? Habe ich nicht bei so und so vielen Firmen vorgesprochen und immer wieder dieselbe Antwort gehört: „Wir haben keine Arbeit für Sie!“ Nützlich machen? Das möchte ich doch! Wenn ich das nur könnte! Wenn mich nur irgendjemand brauchen würde!“

Während Harry noch seinen Gedanken nachhängt, geht eine alte Frau über die Brücke. Sie zieht einen Handkarren hinter sich her, hochbeladen mit Tabak-Kisten. Immer wieder hält sie an, um die Kisten, die herunterzufallen drohen, zurechtzurücken. In diesem Augenblick durchzuckt Harry der Gedanke wie ein Blitz: „Sich nützlich machen! Wäre das nicht die Gelegenheit? Im Grunde habe ich nur immer versucht, eine Anstellung zu finden, um meinen Lebensunterhalt zu verdienen, aber nicht, um mich nützlich zu machen.“ Harry läuft der Frau nach, hilft ihr den Handkarren schieben, indem er im Laufen einmal von links, einmal von rechts die Kisten, die herunterzufallen drohen, zurechtrückt.

Er ist kaum einige Schritte hinter dem Karren hergegangen, da bleibt die alte Frau stehen und kommt nach hinten.

Sie dankt mit Tränen in den Augen. Sie ist gerührt ob so viel Hilfsbereitschaft. Denken Sie sich den Fortgang der Geschichte so? Leider nein!“ Es geschah etwas ganz anderes. – Sie schickte ihn weg! Warum?

Weil uneigennützige Hilfsbereitschaft so ungefähr das Letzte ist, was wir von unseren lieben Mitmenschen erwarten. Das ist traurig, aber wahr!

Harry lässt sich jedoch nicht abschütteln. Er versteht es, die alte Frau zu beruhigen, indem er ihr beteuert: „Ich habe denselben Weg, und ich möchte mich Ihnen nur nützlich machen!“ Widerwillig lässt sich die alte Frau dazu bewegen, den Weg fortzusetzen. Die beiden kommen schliesslich zu einem Lagerhaus, wo Harry dienstbeflissen hilft, die Kisten abzuladen.

Im Lagerhaus sieht Harry, wie andere Arbeiter damit beschäftigt sind, Eisenbahnwaggons zu beladen. Als er bemerkt, dass ein Arbeiter Mühe hat, mit einer schweren Kiste zurechtzukommen, legt er, immer getreu dem Ratschlag des jungen Geschäftsmannes, ebenfalls Hand an und hilft mit, die Waggons zu belade

Es dauert nicht lange, bis ein Vorarbeiter vorbeikommt. Er entdeckt das neue Gesicht unter den Arbeitern und weist unseren Freund vom Platz mit den Worten: „Wir haben Sie nicht gerufen. Machen Sie, dass Sie fortkommen!“ Er sieht dem jungen Mann noch ins Gesicht und fragt, von einer menschlichen Regung erfasst: „Wie lange haben Sie denn da schon geholfen? Nun, so sind wir auch wieder nicht! Kommen Sie mit an die Kasse, und wir bezahlen Ihnen den Lohn, den sie verdient haben. Dann aber verschwinden Sie! Wir haben keine Arbeit für Sie!“

Nachdenklich und einigermassen erstaunt über die Erfahrungen, die er da gesammelt hat, geht Harry nach Hause. Er hat schon lange nicht mehr so viel Geld in der Tasche gehabt. Das Prinzip hat sich wenigstens fürs erste bewährt.

Am andern Tag erwacht Harry recht unternehmungslustig und überlegt sich, wie er das bewährte Prinzip auch heute anwenden könnte. Es fällt ihm nichts Besseres ein, als erneut den Weg zu jenem Lagerhaus einzuschlagen, um zu sehen, ob eventuell wieder Eisenbahnwaggons beladen werden. Er muss aber feststellen, dass dies nicht der Fall ist. In den kommenden Wochen geht er nun alle Tage zu diesem Lagerhaus, um gelegentlich, wenigstens während einiger Stunden, doch Hand anlegen zu können. Eines Tages kommt der Vorarbeiter auf ihn zu und berichtet ihm, dass einer der älteren Arbeiter gestorben sei: „Wenn Sie es wünschen, können Sie in die Firma eintreten.“ Harry sagt zu. Auch als Arbeiter versucht er dem Prinzip nachzuleben: „Mache dich unter allen Umständen und zu jeder Zeit nützlich!“

Den Rest der Geschichte können wir uns sparen. Ueberrascht es Sie, dass Harry, der Bettler von der Themsebrücke, Generaldirektor eines der grössten Transport- und Lagerhaus-Unternehmen in London wurde? Desselben Unternehmens, in das er sich mit der Absicht – sich nützlich zu machen – Zutritt verschafft hatte?

Schluss

 

Ein Gedanke zu „38. Geschichte 2 aus dem Leben: Harry, der Bettler auf der Themsebrücke

  1. Von diesen Geschichten gibt es viele – und keine ist wahr, weil Sie alle anfangen mit “nennen wir ihn mal” oder in einer fernen Stadt stattfinden. Zeigen Sie ein Beispiel auf, wie es ein Nachfünfziger in den Verwaltungsrat eines Schweizer Unternehmens geschafft hat oder in den Aufsichtsrat eines Deutschen Unternehmens nachdem er in der Bahnhofstrasse oder Berlin Alexanderplatz gebettelt hat. Nennen Sie mir nur einen!

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