89. Der Reste-Tisch

Verfasser: Alexander Hoffmann / Erich Gerber

Als das 70jährige Jubiläum des RC Redliwil näher rückte, war angesichts der vielen Gäste die Mutter aller Fragen zu klären – wer sitzt wo und mit wem?
Das delikate Thema Sitzordnung wurde der Rotarierin Anna Obermüller anvertraut. Sie war die Enkelin von Ehrenpräsident Ernst Friedrich, die Generaldirektorin einer bekannten Lebensmittelunternehmung und somit bekanntes Mitglied der Redliwiler Gesellschaft.
Auf seine Frage klärte sie den Präsidenten Georges Bräker auf: „Wir planen einen Ehrentisch sowie die Tische A, B und C. Du kommst natürlich an den Ehrentisch und darfst neben mir sitzen.“

Vorsichtig fragte der Clubpräsident: „Und wer kommt an den Tisch A?“
„Hohe politische Würdenträger, außerdem Unternehmer mit einem Jahresumsatz von über 100 Millionen Schweizer Franken.“
„Und die B-Gäste?“
„Das sind Unternehmer mit unter 100 Millionen Umsatz. Außerdem Professoren und ähnliche Respektspersönlichkeiten.“
Der Clubpräsident seufzte: „Und wer muss an die C-Tische?“
„Diese passen für Prokuristen, Unternehmensberater, Versicherungsvertreter, Anwälte, Mitglieder von Nachbarclubs und dergleichen.“

Anna Obermüller hielt jetzt kurz inne und meinte dann fast erschrocken: „Oh je! Den Reste-Tisch habe ich ganz vergessen.“
„Oh je, wer kommt denn dort hin?“
„Rotaractors, Austauschstudenten, Künstler und ähnliche.
Eben: Der gute Rest!“

Sie machte sich mit dem Präsidenten an die Arbeit, hatte aber nicht mit der Selbsteinschätzung innerhalb des Clubs gerechnet. Dreiviertel der Mitglieder sahen ihren Platz am Ehrentisch und nur im Notfall an A-Tischen. Hinzu kamen diverse persönliche Befindlichkeiten.
Rotarier Franz Mühlemann, dessen Onlineshop gerade die 100 Millionen-Hürde genommen hatte, sah sich schon am A-Tisch, als Rotarier Alexander Medici  intervenierte: „Meine Drogeriekette kommt nur auf 95 Millionen, aber meine Umsatzrendite ist doppelt so hoch.“
Als die mit der Tischordnung beauftragte Rotarierin das Ehepaar Ackermann und Rot. Friedrich von Planta an einem C-Tisch platzierte, griff der Clubpräsident Bräker ein: „Das geht nicht: Frau Ackermann hieß vor einem Jahr noch Zehnder.“
Und auch die Absicht, Pastpräsident Daniel Bünzli mit dem gleichaltrigen Clubfreund Roger Winkelried an einem A-Tisch zu vereinen, scheiterte.

„Das geht schon gar nicht“, meinte Bräker.
„Warum nicht?“
„Weil sich beide überworfen haben. Roger hat Daniel mal die Vorfahrt in der Garage genommen, exakt am 23.9.1969.“

Die junge Generaldirektorin verzweifelte. Eine allseits befriedigende Tischordnung wollte ihr einfach nicht gelingen. Doch der Clubpräsident wusste wie oft Rat:
“Jetzt muss „FELIX“ ran! “
„FELIX“ war ein kleiner Hochleistungscomputer, unterstützt von den neuesten Errungenschaften der Künstlichen Intelligenz. Dieser Roboter war kürzlich angeschafft worden und fühlte sich bislang zu wenig beachtet.

Anna Obermüller fütterte ihn mit den Daten aller Gäste und ließ ihn dann arbeiten. Im Computer „FELIX“ summte, knackte und flackerte es lange, er schien regelrecht zu schwitzen.

Schliesslich verkündete er mit ziemlich blecherner, aber noch gut verständlicher Stimme: „FELIX“ kommt an den Ehrentisch, alle anderen an den Reste-Tisch.“

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