19. Das rotarische Schläfchen

Verfasser: Alexander Hoffmann / Erich Gerber

Das Referat von Ingenieur Baumann zum Thema „Das Festigkeits- und Zähigkeits-verhalten von Mehrlagen-Schweißungen an höherfestigen Feinkornbaustählen“ schleppte sich im Gasthof Wohlfahrt so dahin. Präsident Bräker sagte halblaut zu Programmchef Emmenegger: „Schon wieder ein Vortrag, der unter das
Betäubungsmittelgesetz fällt.“ Beide waren unter den wenigen, die im Meeting tapfer die Augen offen hielten. Ehrenpräsident Ernst Friedrich war gleich nach dem Dessert eingenickt, aber der durfte das. Doch was taten die jüngeren, die dynamischen Säulen des Clubs, die aktiven Mitglieder im RC Redliwil? Auch sie schliefen. Missmutig musterte Georges Bräker vor allem die hinteren Tische. Dort fiel ihm vor allem Hansjakob Gafner auf. Gafner war ein Profi-Schläfer, geübt in ungezählten beruflichen Sitzungen. Er legte stets das Gesicht schräg in die
aufgestützte Hand, versteckte die Augen hinter der Brille, die Lider waren millimeterweit offen, die Ohren auf Durchzug gestellt. Sein Mechanismus war so programmiert, dass er köstlich schlief, aber bei Reizwörtern wie dem eigenen Namen, der Erwähnung von Geld oder dem Klang der Glocke nach einer Hundertstelsekunde ganz wach war.

Der Präsident fragte seinen Programmchef: „Über was redet Peter Grossenbacher nächste Woche?“ „Über Herzog Otto den Übellaunigen und das Bistum Chur.“
„Ist ja nicht gerade der Knüller, da entschlafen mir alle.“
Doch dann hatte er eine Idee: „Ich bitte Peter, den Vortrag dramaturgisch etwas zu aufzupfeffern.“
Und so beleuchtete der Referent Grossenbacher beim nächsten Meeting den komplexen Streit Ottos mit dem Bischof von Chur. Alles schlief wie gehabt, doch dann hob Grossenbacher die Stimme: „Dabei war Otto so großzügig. Ich denke nur an seine Schenkungen für das Bistum. Ein wahrhaft großes Herz hatte er – so wie wir im Club, als wir uns zur Spontanspende für den neuen Kindergarten in Redliwil entschlossen haben. Wie Ihr wisst, bucht ja der Kassier morgen tausend Franken von Euren Konten ab.“

Hansjakob Gafner schnellte aus seiner Schlafstellung hoch, war plötzlich hellwach wie alle anderen. Es herrschte große Unruhe, es gab Zwischenrufe – „Was, wie? 1000 Franken? Für jeden?“. Es war, als ob im Gasthof Wohlfahrt ein riesiger Leuchter entflammt worden wäre. Der Referent erfreute sich höchster Aufmerksamkeit, und es entspann sich eine intensive Diskussion. Präsident Bräker war glücklich und noch Wochen danach sprachen alle von einer „Sternstunde des Clubs.“

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